Die Bedeutung der mittelalterlichen christlichen Theologie und Philosophie für die Entstehung der neuzeitlichen Naturwissenschaft und für die Entwicklung der modernen Gesellschaft

Bischof Stanislaw Wielgus

Das Ziel meiner Ausführungen ist, die Bedeutung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie für die neuzeitliche und die moderne Gesellschaft zu betonen. Ihr Ursprung ist in der vorchristlichen Ära zu suchen, während die Soziologie, beziehungsweise die Etnographie nur über einhundert Jahre alt sind.
Der Einfluß der obengenannten Disziplinen auf das gesellschaftliche Leben der Menschen, auf ihre Mentalität, moralische Einstellung, ihre Weltanschauung sowie auf ihren ganzen Lebensstil war in verschiedenen Epochen different. Den populären, wenn auch nicht wahrheitsgemäßen, Ansichten zum Trotz, welche die mittelalterliche Theologie und Philosophie für durchaus theoretische Disziplinen halten und derer Reflexion sich kaum auf die Lebenspraxis bezöge, ist zu betonen, dass sie einen großen Einfluß auf die Entwicklung der Kultur, sowie auf das politische, gesellschaftliche, selbst auf das ökonomische Leben der Völker im Laufe ihrer Geschichte ausgeübt haben.
Es gibt Beweise, welche die Behauptung aufstellen lassen, dass die Rolle der christlichen Theologie und Philosophie für die Entstehung der neuzeitlichen Naturwissenschaft entscheidend war.
Die Entstehung der neuzeitlichen Naturwissenschft hatte wiederum eine solche grundlegende Bedeutung für die Geschichte der neuzeitlichen Zivilisation und der modernen Gesellschaften, dass es angebracht scheint, dieser Frage unsere Aufmerksamkeit zu schenken.
Der gegenwärtige Mensch, der sich an die Allgegenwart der Wissenschaften in seinem Leben sowie an ihre zahlreichen technologischen Anwendungen gewöhnt hat, ist sich sehr oft nicht dessen bewußt, dass dies, was er unter neuzeitlicher Wissenschaft versteht, nur ein für unsere europäische Zivilisation charakteristisches Unikum ist. Nichts dergleichen gab es in den vergangenen - großen oder kleinen - Zivilisationen. Gewiss gab es höchst entwickelte gesellschaftliche Strukturen, große Staaten, Menschen von einer hohen Kultur und bedeutende Handwerker. Es gab große Werke im Bereich der Architektur, Metallurgie, Keramik, sowie große philosophische und literarische Werke und wichtige Entdeckungen in solchen Disziplinen wie Medizin, Astronomie und Mathematik, doch nichts Vergleichbares gab es in der Wissenschaft, die vor einigen Jahrhunderten in Europa entstand.
Die neuzeitliche Wissenschaft, verstanden als detaillierte quantitative Erklärung der materiellen Welt in Form von mathematischen Gleichungen, erscheint eigentlich erst bei Newton (+1727), als er seine drei Gesetze formulierte und feststellte, dass man sie auf die Erklärung gewisser Aspekte der ganzen materiellen Welt anwenden kann: sowohl auf die Bewegungen der Planeten als auch auf den fallenden Apfel. Auf eine ähnliche Weise erlaubten die im 19. Jahrhundert entdeckten Gesetze Maxwells (+1879), alle elektrischen und magnetischen Phänomene, und die Gleichungen Schrodingers (+1961) - die Quantenmechanik zu erklären.
Die große Bedeutung der neuzeitlichen Wissenschaft, welche die materielle Welt quantitativ erklärt, ist für die Gegenwartsgeschichte der Menschheit so offensichtlich, dass es sich erübrigt, diese Problematik bis ins Kleinste zu erörtern. Zweifellos ist die neuzeitliche Wissenschaft der Ursprung aller modernen Technologien, Erfindungen der Technik und der Zivilisationsentwicklung der Welt. Heutzutage lassen sich oft zahlreiche Einwände vernehmen, die gegen die dynamische Entwicklung der Technologie und die mit ihr eng verbundene Produktion erhoben werden, weil sie nicht nur die Umweltverschmutzung verursachen, sondern auch durch die Herstellung von Massenvernichtungswaffen eine Bedrohung für die Menschheit darstellt. Man könnte darauf antworten, dass wir vielleicht ohne die neuzeitliche Wissenschaft und die Technologie etwas besser wären und uns sicherer fühlen würden (was das Gefühl der Sicherheit angeht, muss man einräumen, dass der Mensch in allen Epochen den Gefahren ausgesetzt war, auf welche Art auch immer), aber ohne die Wissenschft und die Technologie hätten sicher viele von uns nicht die Chance gehabt, da zu sein, und diejenigen, denen es doch gelungen wäre, hätten kurz, und sicher in Elend und Schmutz, gelebt.
Unabhängig von der moralischen Einschätzung der neuzeitlichen Wissenschaft ist ihr Einfluss auf das Leben der heutigen Gesellschaften unbestritten. In diesem Kontext scheint nun folgende Frage interessant zu sein: Warum ist die neuzeitliche Wissenschaft gerade in der europäischen - und in keiner anderen der vergangenen Zivilisationen entstanden und gerade an diesem und keinem anderen Zeitpunkt ihrer Entwicklung? Was war das für die europäische Zivilisation charakteristische Unikum, welches über das Entstehen der neuzeitlichen Wissenschaft entschieden hat ?
Wir müssen uns vor die Augen führen, dass allen großen Zivilisationen ein Fortschritt im Bereich der sozialen Strukturen gemeinsam war, der dazu beitrug, dass gewisse Menschengruppen von der Sorge befreit wurden, sich die Existenz sichern zu müssen. In den meisten Zivilisationen gab es Schriftsysteme, welche es erlaubten, das Gedankliche festzuhalten. Gewisse Kenntnis der Mathematik, sowie praktisches Können - das zur Herstellung von Waffen und Werkzeug nötig war, das Zurechtfindung auf Meer und Land, Erdmessungen und Messungen der Bauten, Behandlungen der Kranken sowie Errichtung von Bauwerken erlaubte - war auch vorhanden. Man kann also sagen, dass eigentlich jede Zivilisation materielle Bedingungen zur Entstehung dessen bot, was wir heute unter dem Begriff "neuzeitliche Wissenschaft" verstehen. Warum geschah es gerade in dem spätmittelalterlichen Europa? Ist es nur einem puren Zufall zu verdanken ? Es ist kaum wahrscheinlich, dass der Zufall hier mitwirkte.
Die neuzeitliche Wissenschaft entsprang der europäischen Zivilisation, weil diese ein einzigartiges Charakteristikum auszeichnete, welches den anderen Zivilisationen fehlte. Das Charakteristikum manifestierte sich in einer bestimmten intellektuellen Attitüde der damaligen Europäer in Bezug auf die materielle Welt. Diese Attitüde wurde nota bene durch die damaligen Geisteswissenschaften, vornehmlich durch Philosophie und Theologie, mitgeprägt, und kam in folgenden Überzeugungen zum Ausdruck:
1. Die materielle Welt ist gut, schlimmstenfalls neutral. Die Welt, an sich schlecht betrachtet, wäre es nicht wert, ihr jegliche Aufmerksamkeit zu schenken, geschweige denn sie eingehend zu studieren.
2. Die materielle Welt ist rational und geordnet. Es herrscht Ordnung in ihr. Dem Entschluss, die materielle Welt zu erforschen, musste die Überzeugung zugrunde liegen, dass die vom Forscher gemachte Entdeckung oder Feststellung, für die Totalität der Erscheinungen sinnvoll ist, und dass sie weiterhin als wahr bezeichnet werden kann, selbst unter veränderten Raum- und Zeitbedingungen.
3. Eine solche Ordnung der Welt ist von einer besonderen Beschaffenheit. Einerseits wird sie als konstant und gewissermaßen als notwendig begriffen. Dies äußert sich in der Überzeugung des Forschers, dass ein bestimmtes Naturphänomen so und nicht anders beschaffen ist, ihn hoffen läßt, dass er eine Regelmäßigkeit auch in der Reflexion über die Welt finden kann. Andererseits begreift man diese Ordnung als relativ, was sich in der Überzeugung manifestiert, dass ein Naturphänomen doch anders beschaffen sein könnte, wenn es unter veränderten Bedingungen in Erscheinung treten würde. Dies regt den Forscher an, die Welt zu beobachten und Experimente durchzuführen.
4. Die Ordnung in der Welt existiert nicht nur, sondern sie lässt sich auch entdecken. Sie ist dem Intellekt des Menschen gegenüber offen. Ohne die Überzeugung, die Welt lasse sich erkennen, wäre der Mensch nicht imstande, wissenschaftliche Untersuchungen durchzuführen, die eine durchaus komplizierte und frustrierende Beschäftigung darstellen, weil sie nur auf dem Wege des Versuchens und Irrens durchführbar sind. Vom Wissenschaftler verlangen sie oft beinahe heroische Entsagung, Ausdauer und Beharrlichkeit.
5. Wissenschaftlich fundiertes Wissen über die materielle Welt ist kein Geheimnis. Es ist nicht nur für Eingeweihte bestimmt, sondern es soll allgemein zugänglich sein für jeden, der sich darauf intellektuell vorbereitet. Diese Zugänglichkeit des Wissens für viele Menschen - dabei muss man den Unterschied zu alten Zivilisationen bemerken, welche hermetisches Wissen auszeichnete, das nur Wenigen zugänglich war, um nur die ägyptischen Priester, die altertümlichen religiösen Mysterien oder die Exklusivität der Pythagoreer zu erwähnen - verband sich mit der Überzeugung, nach Wahrheit gemeinsam suchen zu müssen. Das Bedürfnis gemeinsamer Suche nach Wahrheit entsprang nicht nur der Ansicht, dass Wahrheit ein gemeinsames Gut ist, sondern auch dass sie durch ein gemeinsames Bemühen vieler Menschen erkennbar ist.
6. Wissenschaftlich fundiertes Wissen über die materielle Welt erlaubt es dem Menschen, die Welt zu kontrollieren. Diese Überzeugung hatte zur Folge, dass die Mehrheit der Gesellschaft, die es nicht direkt mit der Wissenschaft zu tun hatte, die Wissenschaftler nicht als eine Gruppe ungefährlicher Käuze betrachtete, sondern in ihnen die Menschen erblickte, deren Arbeit allen zugute kommt. Die Überzeugung von der Wichtigkeit intellektueller Arbeit hatte auch eine praktische Auswirkung, denn die europäischen Gesellschaften unterstützten die Wissenschaftler in ihren Forschungen, ohne ihnen vorzuschreiben, was diese zu tun hätten, weil jegliches Steuern den Wissenschaftlern die Hoffnung auf ertragreiche Untersuchungen nehmen würde.
Der oben genannte Komplex von Überzeugungen, der - was hervorgehoben werden muss - gleichzeitig auftrat und die Einstellung der damaligen Europäer zur materiellen Welt ausdrückte, ist ein Unikum in der Geschichte der Menschheit. Wenn wir andere Zivilisationen näher betrachten, stellt sich heraus, dass wir dort grundsätzlich gegensätzliche Meinungen treffen. Allgemein genommen betrachten die meisten alten Zivilisationen die materielle Welt entweder als an sich schlecht oder als launenhaften Dämonen ausgeliefert (vgl. die philosophisch-religiösen Systeme Indiens und Persiens, den Pythagoreismus, Platonismus, Neuplatonismus, Manichäismus u.a.). Eine in den Zivilisationen des Altertums weit verbreitete Überzeugung ist auch die Theorie von der Zyklizität in der Entwicklung des Universums. Diese Theorie besagt, dass alles, was gegenwärtig geschieht, bereits in der Vergangenheit unendliche Male geschehen war und in der Zukunft unendliche Male geschehen wird. Von dieser Überzeugung war etwa die ganze griechische Philosophie und Literatur des Altertums durchdrungen: Der Gedanke, die ganze materielle Welt, samt Mensch und Götter, befinde sich in der ewigen und unbarmherzigen Umarmung des unabänderlichen Schicksals (Ananke, Moira) war in der griechischen Philosophie und Literatur dominierend. Welchen Sinn hätten dann die Untersuchungen einer so begriffenen Welt? Vor dem Hintergrund einer solchen Weltsicht wären jegliche Versuche, etwas Neues zu schaffen, von vornherein zum Scheitern verurteilt und so wäre jedes wissenschaftliche Bemühen es nicht wert, dass der Wissenschaftler ihm sein Leben widmet.
Diese in den Zivilisationen des Altertums verbreitete Weltsicht bot der Entstehung einer neuzeitlichen Wissenschaft keine richtige Chance. Selbst die griechische Zivilisation, belastet vom Necessitarismus (vom Gedanken, über die Welt herrsche eine eiserne Notwendigkeit), von der Verachtung der Materie, vom Glauben an die Zyklizität der Welten und von den Überzeugungen: das Wissen wäre nur für Auserwählte bestimmt und die Wissenschaft sollte nur dem theoretischen und nicht dem praktischen Ziel dienen - war keine gute Voraussetzung für die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft. Zwar gab es auch in den Zivilisationen des Altertums gewisse Denker oder philosophische Strömungen, die sich von mancher - allgemein angenommenen - Überzeugung distanzierten, doch den Meisten blieben sie in ihrem Denken verbunden. Hier sind etwa die offene Attitüde der Erkenntnis bei den Präsokratikern und deren Affirmation der materiellen Welt oder die Überwindung des Fatums bei den Orphikern und den Pythagoreern zu erwähnen.
Eine günstige Grundlage für die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft stellte erst die mittelalterliche Zivilisation Europas dar, die sich zwar auf die griechische Philosophie, römisches Recht, jüdisches Altes Testament sowie auf die mittelalterlichen islamischen Denker stützte, aber sie schuf eine neue Qualität, denn sie unterschied sich von ihnen in der Sicht der materiellen Welt und der Aufgaben und Möglichkeiten des menschlichen Geistes.
Grundlage dieses neuen Denkens bildeten die im mittelalterlichen Europa dominierende christliche Philosophie und christliche Theologie. Sie blieben zwar ursprünglich unter einem starken Einfluss der platonisch-neuplatonischen Philosophie, doch sie verwarfen derer fundamentale These, die Materie und die materielle Welt wären an sich schlecht. Respektierend das Buch Genesis, wo nach der Schöpfung der Welt "Gott [...] alles an[sah], was er gemacht hatte: Es war sehr gut" (Gen 1,31), vertraten die christlichen Philosophen und Theologen die Meinung, die materielle Welt sei gut. In ihrer affirmativen Einstellung zur materiellen Welt verstärkte sie das für den christlichen Glauben zentrale Dogma von der Menschwerdung Gottes: "Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt" (Joh 1,14).
Dem Buch der Weisheit folgend, wo es heißt: "Du aber hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet" (Weish 11,20), vertraten die christlichen Denker die Ansicht, dass die Materie nicht nur gut ist, sondern auch geordnet und rational, weil sie ein vernüftiger, personaler Gott schuf. Darüber hinaus glaubten die mittelalterlichen Gelehrten daran, dass Gott die Ordnung der materiellen Welt in einem freien Akt festgesetzt hat. Die Ordnung der Welt entspringt also nicht der Notwendigkeit, wie griechische und islamische Philosophen lehrten. Es herrscht also über die Welt und über das Schicksal des Menschen kein rücksichtsloses Verhängnis, das sich auf das wissenschaftliche Bemühen des Menschen lähmend auswirkt.
Die Christen glaubten darüber hinaus, daß die Ordnung der Natur vom menschlichen Geist sich erschließen lässt und dass das Erwerben des Wissens von der materiellen Welt nicht nur möglich, sondern auch eine der Hauptpflichten jedes Menschen ist, denn der Schöpfer dieser Welt gab ihm den Auftrag, dass er sich die Erde untertan mache (vgl. Gen 1,28) und die ihm geschenkten Talente entwickle (vgl. Mt 25,15 u.a.).
Die Meinungen der mittelalterlichen Philosophen und Theologen bildeten ein günstiges Klima, das für die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft, verstanden als eine detaillierte, quantitative Erklärung der materiellen Welt, unerlässlich war. Ein erhebliches Hindernis für die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft, das jahrhundertelang wirksam war, war die über 1500 Jahre dauernde Dominanz der aristotelischen Physik, welche die Entwicklung der auf Mathematik fußenden pythagoreisch-platonischen Vision der Natur blockiert hat.
Aristoteles stellte die These auf, die Welt sei ewig und zyklisch. Veränderungen und Bewegung erklärte er teleologisch. Er nahm das Vorhandensein zweierlei Materie an: einer veränderbaren, entstehenden und wieder zugrunde gehenden, irdischen Materie und einer diametralen, unzerstörbaren und ewigen himmlischen Materie. Aristoteles lehrte - was für die Entwicklung der Wissenschaft eine negative Auswirkung hatte - eine qualitative Physik, für welche die Suche nach dem Wesen der Dinge wichtig war. Von Belang war für ihn vor allem die Form der Dinge als Träger ihrer qualitativen Merkmale und nicht gerade die experimentelle Untersuchung und mathematische, quantitative Auffassung der Dinge. Die mit der Autorität der Bibel vergleichbare gewaltige Autorität des Aristoteles, begannen eben die christlichen Philosophen und Theologen in Frage zu stellen. Da manche Meinungen des Aristoteles der christlichen Doktrin zuwiderliefen, wurden sie von der Kirche mehrmals verurteilt (1210, 1215, 1231, 1277) und mit dem Verbot belegt, diese zu studieren und zu lehren. Diese Verbote - an sich der Forschungsfreiheit widersprechend - hatten doch eine positive Auswirkung, weil sie die Aufmerksamkeit vieler Gelehrten auf eine andere Möglichkeit lenkte, die materielle Welt zu untersuchen und zu beschreiben, und zwar auf eine mathematische Vision der Natur, die sich auf der quantitativen und nicht auf der qualitativen Auffassung der Naturphänomene konzentrierte. In diesem Kontext müssen folgende Namen genannt werden: Thomas Bradwardine (+1349), Richard Swineshead (+ um 1350) und Wilhelm Heytesbury (+1370), Gelehrte vom Merton College in Oxford. Ihr Einfluss auf die wissenschaftlichen Zentren Europas war sehr groß. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass diese "Calculatores" vom Merton College sich vornehmlich mit strikter theologischer Problematik beschäftigten. Ihr Interesse galt etwa dem Problem der quantitativen Vermehrung der theologischen Tugenden im Menschen; anders gesagt, versuchten sie dies, was einen qualitativen Charakter besitzt, quantitativ, ja geometrisch aufzufassen. Die der quantitativen Sicht der Welt entspringende Methode wurde bald zur Methode der naturwissenschaftlichen Untersuchungen. Dies ist ein weiteres die These unterstützende Argument, dass die mittelalterliche christliche Philosophie und Theologie für die neuzeitliche Naturwissenschaft grundlegend sind. Die naturwissenschaftliche Reflexion der christlichen Theologen und Philosophen des 15. Jhs. lehnt die irrtümliche aristotelische Physik mit dem für sie charakteristischen Zug ab, das Phänomen der Bewegung teleologisch erklären zu müssen. Auf diese von mittelalterlichen Theologen vollzogene Ablehnung der aristotelischen Physik stützte sich Johannes Buridan (+ nach 1358), der auf sich die Aufgabe genommen hatte, die für die Physik fundamentale Erscheinung der Bewegung zu erklären, und zwar mit Hilfe einer bereits von Peter Olivi (+1298) und Franciskus von der Mark (+ nach 1344) suggerierten, aber von Buridan selbst entwickelten Theorie des Impetus. Buridans Theorie, in Opposition zur aristotelischen Physik, knüpfte unmittelbar an die christliche Theologie an. Buridan behauptet nämlich, dass "Gott, als er die Welt schuf, jedes der Himmelskörper bewegte, so wie er wollte, und indem er sie bewegte, ihnen einen Impetus verlieh, der ihre Bewegung vom Bewegenden unabhängig macht" (Johannis Buridani Subtilissimae quaestiones super octo Physicorum libros Aristotelis, Parisiis 1509, lib. VIII, qu.12,f.121 ra). Den Begriff des Impetus eines Körpers, verstanden als das Produkt seiner Masse und seiner Geschwindigkeit, übernahmen die Schüler Buridans - Nikolaus von Oresme (+1382), Albert von Sachsen (+1390), Marsillius von Inghen (+1396), Ioannes Dorp (+ circa 1404), Thomas von Kleve (+circa 1375), Petrus von Ailly (+1420), Laurentius Londorius +1437) und die nächsten Generationen der Gelehrten, bis ins 17. und 18. Jahrhundert hinein. Und so finden wir diesen Begriff im "impeto" des Galilei (+1641), in "quantité du mouvment" des Descartes (+1650), in "force vive" Leibnizens (+1716) sowie im "momentum" Newtons (+1727). Buridan ging von den Voraussetzungen der christlichen Theologie aus, die aufgrund der Annahme, dass Gott das ganze Universum geschaffen hat, den krassen aristotelischen Gegensatz zweierlei Materie, der irdischen und der himmlischen, ablehnte. Er stellte nun fest, dass diese zwei Arten von Materie denselben Gesetzen der Mechanik unterliegen. Durch diese Feststellung schuf Buridan Grundlagen für die Entdeckung Newtons, dass es dieselbe Kraft ist, welche es bewirkt, dass die Erde den Apfel anzieht, und die den Mond auf seiner Bahn festhält.
Die Entstehung der neuzeitlichen Naturwissenschaft war also möglich einerseits dank dem von der christlichen Philosophie und Theologie geschaffenen Komplex von Überzeugungen in Bezug auf die materielle Welt, andererseits dank der Ablehnung der Autorität des Aristoteles in den Fragen der materiellen Welt. Eine weitere Entwicklung der neuzeitlichen Naturwissenschaft wurde wiederum erst dann möglich, als die sich mit naturwissenschaftlichen Untersuchungen beschäftigten Gelehrten die Autorität der Bibel in Bezug auf die Bereiche der Astronomie, Biologie sowie sonstiger naturwissenschaftlicher Disziplinen in Frage stellten, während die Autorität der Bibel in Fragen des Glaubens und der Moral bestehen blieb. Die Fortentwicklung der Naturwissenschaft war ein langwieriger Prozess. Viel Zeit musste verfließen, bis sich die Betrachtungsweise der Bibel in methodologischer Hinsicht gewandelt hat. Es musste sich inzwischen der Fall Galilei ereignen, dessen unglückseliger Ausgang seine Wurzeln darin hatte, dass die diesen Fall untersuchenden Theologen die wissenschaftliche Kompetenz der biblischen Texte zu weit begriffen. Der Fall Galilei mußte sich ereignen, damit die neuzeitliche Naturwissenschaft sich fortentwickeln konnte. Die Geisteswissenschaften, repräsentiert von der mittelalterlichen Philosophie und Theologie, haben also eine grundlegende Rolle gespielt bei der Entstehung und Fortentwicklung der neuzeitlichen Wissenschaft, und somit bei der Gestaltung der neuzeitlichen Zivilisation und modernen Gesellschaft Europas.


Literatur:

Johannes Buridanus: Johannis Buridani Subtilissimae quaestiones super octo Physicorum libros Aristotelis, Parisiis 1509, liber VIII, quaestio 12, f.121r;
Clagett M., The Science of Mechanics in the Middle Ages, Madison 1961, The University of Wisconsin Publications in Mediaeval Science, vol.4, p.523 et sqq;
Copleston F., A History of Philosophy, New York 1993, vol. 3, p. 157 et sqq.;
Crombie A.C., Nauka sredniowieczna i poczatki nauki nowozytnej, Warszawa 1960, vol.2, p.64 et sqq, p.116 et sqq;
Diez-Hochleitner R., Europe in global perspective, "Academia Scientiarum et Artium Europea. Annales", vol. 9, Nr V (1995), p. 25 et sqq.;
Duhem P., Le systeme du monde. Histoire des doctrines cosmologiques de Platon a Copernic, Paris 1954, vol. 4, p. 135 et sqq.:
Hodgson P., The origin of science in Christian Europe, "Atheism and faith" XXVI-1(1991) p.57-66 (Citta del Vaticano);
Maier A., Zwei Grundprobleme der scholastischen Naturphilosophie. Das Problem der intensiven Grosse. Die Impethustheorie, Roma 1951, p. 218 et sqq.;
Markowski M., Burydanizm w Polsce w okresie przedkopernikanskim, Wroclaw 1971, p.112 et sqq.;
Wielgus S., O micie "ciemnego" sredniowiecza i "swiatlej" nowozytnosci polemicznie, in: Z badan nad sredniowieczem, Lublin RW KUL 1995, p. 7 et sqq.

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